„Das kann ich nicht mehr verantworten!“

Gerade erschienen im Paranus Verlag ist das Buch „Das kann ich nicht mehr verantworten! Stimmen zur Lage der sozialen Arbeit“, herausgegeben von Mechthild Seithe und Corinna Wiesner-Rau.

Das Buch enthält etwa 60 kurze Texte von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen, die frisch von der Leber weg über die Misere in der Sozialen Arbeit berichten. Die Texte wirken spontan, lebendig, sie sind kritisch und bedenkenswert. Durch die Lektüre des Buchs erhält man subjektiv gefärbte kurze Einblicke in die Praxiswelt der Sozialen Arbeit. Man erfährt einiges über die Kinder- und Jugendhilfe, über Behindertenhilfe, Arbeit mit psychisch kranken Menschen, Migranten und Wohnungslosen. Man erfährt aber nicht – wie sonst oft – wie es sein sollte oder wie es zu wünschen wäre, sondern wie es tatsächlich oft ist.

Die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen in diesem Band berichten von Unterfinanzierung, ausbeuterischen und prekären Arbeitsverhältnissen, Bürokratiewahn, Dokumentationswut und vor allem auch von staatlichen Stellen, die sich zunehmend aus der gesellschaftlichen Verantwortung stehlen.

Mir haben vor allem die Texte gut gefallen, wo Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen von der zunehmenden gesellschaftlichen Kälte gegenüber den nicht-nützlichen Bürgern berichten, angesichts derer sie selbst oft auch machtlos sind. Man sollte das nicht unterschätzen, wie prägend es vor allem für einen jungen Menschen sein muss, wenn er beim JobCenter vermittelt bekommt, dass er unerwünscht ist. Wenn die Wohnungssuche buchstäblich mehrere Jahre dauert, weil preiswerter Wohnraum etwa für jemanden mit einer psychischen Erkrankung sehr schwer zu ergattern ist. Wie kann da ein Sozialarbeiter helfen?

Nun arbeite ich ja selbst als Erfahrungsexpertin und Wohnbetreuerin auf einer Stelle, die auch ein Sozialarbeiter besetzen könnte. EX-INler streben in den sozialen Bereich, wollen dort arbeiten, wo jetzt Sozialarbeiter von den schlechten Konditionen berichten. Was also denke ich über die Berichte in diesem Buch als EX-INlerin, als jemand, der durch einen Quereinstieg in genau diesem Arbeitsfeld mit psychisch kranken Menschen arbeitet?

Viele von den EX-INlern haben einige Zeit von Hartz IV oder Grundsicherung gelebt. Eine Stelle bei einem freien Träger, wenn auch befristet, ist für sie ein Schritt vorwärts. Dann kenne ich auch viele Sozialarbeiter, die nebenbei noch eine andere Leidenschaft haben, schreiben, malen, Sportteams coachen, Musiktherapie oder anderes. Für all diese ist die soziale Arbeit nicht die einzige Tätigkeit, zumeist aber die, von der sie ihre Rechnungen bezahlen. Kurzum, ich entedecke unter den Sozialarbeitern vielseitig interessierte und begabte Menschen, die mit ihrer Leidenschaft für Soziale Arbeit genügend Geld zum Leben verdienen, nebenbei aber noch anderen Leidenschaften nachgehen. Zu diesen Lebenskünstlern zählen auch viele EX-INler.

In meinen Augen kommen diejenigen Menschen am besten mit der Situation in der Sozialen Arbeit zurecht, die gar nicht einen möglichst einträglichen Brotberuf, Sicherheit und genug Geld für ihre Familie suchen. Sondern Menschen, die sowieso lieber in Teilzeit arbeiten und für die es um den Sinn der Arbeit, um ihre diversen Interessen, um Kreativität geht. So kann ich die Klage schon nachvollziehen, dass Soziale Arbeit als Brotberuf ungeeignet ist. Aber vielleicht hätte man sich auch beruflich anders orientieren sollen, wenn es um einen Brotberuf geht?

Für Betroffene, die oft lernen, aus der Not eine Tugend zu machen, von Hartz IV gut zu leben, diverse kreative Interessen und Projekte zu pflegen, die eigentlich immer nur genug Geld für alle Rechnungen und ein bisschen Vergnügen wollen, ist dieses Berufsfeld nach wie vor interessant. Was mir allerdings auch als Betroffene Sorgen macht, ist diese soziale Kälte, dass ein Teil der Bevölkerung einfach abgehängt und im Stich gelassen wird. Ansonsten macht es mir in der Praxis öfter Sorgen, wie gerade Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen mit den Klienten und Klientinnen umgehen: Da geht es oft mehr um soziale Kontrolle als um Hilfe. Aber genau auf solche blinden Flecken aufmerksam zu machen ist Teil meiner Aufgabe als EX-INlerin.

Ein wichtiges Buch, auch wenn die Problematik sich für EX-INler oft etwas anders darstellt.

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