Der feuchte Sand auf dem Weg hinter den Dünen knirschte unter ihren Schuhen. An diesem dunstigen Morgen, kurz vor dem Sonnenaufgang, hatte es genieselt. Es war windstill, der helle Kegel der Taschenlampe streifte über die umliegende Dünenlandschaft. Hätte man nicht die Schritte gehört, hier, nicht weit von der Seebrücke des Ostseekurortes, wäre kein Laut zu hören gewesen.
Die beiden Frühaufsteher hatten an diesem kühlen Morgen ein Ziel. Es war ihr Hochzeitstag, vor sieben Jahren hatten sie geheiratet. Mit einer Flasche Sekt und zwei Gläsern wollten sie sich ans Ufer setzen und auf ihr Glück anstoßen.
Die düsteren Gestalten kamen zum Übergang, der durch die Dünen zum Strand führte. Sie stapften durch den Sand, sahen umrisshaft das Wasser, das wie eine dunkle Masse aussah und den Horizont dahinter, den man nur erahnen konnte. Die See lag gen Westen – die Sonne würde über dem Land den Weg in den Tag suchen.
Dicht am Wasser ließen sich die Liebenden in den Sand sinken. Ein paar Sekunden saßen sie schweigend im Dunkeln.
„Weißt Du, was Glück ist, Hanna?“, fragte Philip leise.
Hanna schwieg und leise hörte man das Wasser gurgeln: „Du und ich und unser Sohn, das ist Glück“, sprach sie und Philip ahnte in der Dunkelheit, dass seine Frau lächelte.
Er forschte weiter: „Du hast Recht – es gibt für uns kein größeres Glück – aber sag bitte, ist das nicht egoistisch? Wir haben viel geschenkt bekommen, wir sind gesund und lieben uns – kann man das einfach genießen neben all dem Elend auf diesem Globus?“
Ein unwirklicher Schein vom Osten her legte sich über den Ostseeort, über die Häuser und Bäume.
Hanna, der Umriss ihres Gesichtes war schemenhaft zu erkennen, lachte auf und sprach: „Du denkst sehr weit, mein Schatz! Ich weiß, die Welt ist voller unvorstellbaren Leids – wie können wir unter diesen Umständen glücklich sein? Es ist eine moralische Frage!“
Der Gefragte nahm die Hände seiner Frau: „Es gibt das Wort Mitleid. Müssen wir mit dem Leid dieser Welt mitleiden? Oder können wir hier in unserem Urlaub, am Hochzeitstag tief glücklich sein?“
Hanna sprach nun lauter: „Du beschäftigst Dich als Autor mit den Stigmatisierungen in unserer Gesellschaft. Ganze Bevölkerungsschichten haben absolut kein Mitleid mit Menschen, die unterschiedlichste unerwünschte Andersheiten haben.“
Landeinwärts am Horizont wurde es heller. Philip nahm die beiden Sektgläser, stellte sie vor sich in den Sand, legte den Korken frei und drehte am Draht. Lautlos entglitt der Korken dem Flaschenhals. Der junge Mann goss den Sekt in die Gläser.
Er sagte: „Wenn man es nüchtern betrachtet, leben wir in einer Welt ohne jegliches Mitleid. Man kann sagen, die Menschen leben nach dem Motto, das eigene Leid sei das schlimmste Leid. Wenn vielfältiges Leid anderen in Form von Behinderungen, Andersartigem und Erkrankungen widerfährt, dann ist es etwas anderes – es stößt auf Ablehnung.“
Hanna nahm ein Sektglas: „Dürfen wir glücklich sein, oder sollte unser Mitleid überwiegen?“
Auch Philip ergriff das andere Sektglas, schaute seiner Frau in die Augen – etwas Licht war über den Strand gekommen. Sie stießen an, beugten sich zueinander und küssten sich innig.
„Es ist eine wunderbare Zeit, die unser Sohn und wir haben“, sagte der Verliebte.
„Wir können dankbar sein!“, erwiderte seine Frau.
„Scheinbar gibt es kein Mitleid in unserer Welt – es ist ein theoretischer Begriff, von Empathie und Barmherzigkeit getragen. Nur wenige Menschen, wie wir an diesem Morgen, erleben es, dass man mit all den Menschen, denen es nicht gut geht, die eingeschränkt sind, Mitleid haben muss – und bei all diesen Gedanken kann einem tatsächlich das eigene Glück vergehen“, sagte Philip traurig.
Seine Frau schmiegte sich an ihn, legte ihren Arm um ihn und sagte: „Diese Welt ist zerbrechlich, unerhört unsicher – so erscheint es mir. Hör mal, Philip, merkst Du, dass ein leichter Wind aufkommt? Wir sind seit sieben Jahren verheiratet und genauso alt ist unser Sohn. Ich bin unbeschreiblich glücklich mit Euch.“
„Und ich bin mindestens genauso glücklich“, sprach Philip leise.
Der östliche Himmel erhellte sich zunehmend. Vögel begannen voller Freude ihren Morgengesang. Wie eine unsagbare Kraft, die jeden Tag entfachte, kam ein neuer Tag, ein neues Leben in die Welt. Plötzlich war die Umgebung deutlich zu erkennen – das gekräuselte Wasser und zwei Jogger mit einem Hund kamen von der Seebrücke her gelaufen, die sich majestätisch in die Ostsee hinein streckte.
Die junge Frau stand auf, ging langsam zum Ufer, streckte ihren rechten Arm zu ihrem Mann und ergriff seine Hand. Voller Kraft sprach sie: „Philip, wir sprachen von der Welt, in der es vielen Menschen nicht gut geht. Haben wir das Recht glücklich zu sein – können wir das nicht erst, wenn die Welt glücklich ist? Als erstes fällt mir dazu ein, dass wir unter diesen Umständen niemals glücklich sein können.“
Philip trat näher zu seiner Frau: „Es stimmt, es muss Momente geben, in denen man glücklich sein darf.“
Hanna schaute versonnen auf das Wasser: „An diesem frühen Morgen, bei diesem herrlichen Sonnenaufgang können wir es spüren. Es sind christliche Gedanken, die mich überkommen. In der Nacht spenden Mond und Sterne Licht. Am Morgen geht die Sonne auf – sie ist ein Symbol der Auferstehung und des Beginns neuen Lebens. Das Wort Ostern soll von der Himmelsrichtung Osten herrühren, dort wo die Sonne aufgeht. Tiefe Freude und Glück können wir dabei erfahren – dieses immer wiederkehrende neue Leben ist ein großes, unumstößliches Zeichen für die Hoffnung auf eine bessere Welt.“
Der glückliche Philip umarmte seine Frau und sie küssten sich. Fast flüsterte er: „Alles, was die Hoffnung auf eine bessere Welt umfasst – darüber können wir glücklich sein. Unsere Ehe und Familie sind ein Schritt in eine gute Zukunft.“
Hanna ergänzte lächelnd seine Gedanken: „Wir haben heute früh viel gelernt. Menschen, die sich über egoistische und negative Dinge freuen, können kein wirkliches Glück fühlen. Glück ist immer in die Zukunft, zum Guten gerichtet.“
Die Liebenden gingen Hand in Hand zurück über die Dünen hin zu ihrer Ferienwohnung. In der Strandstraße sagte Philip leise: „Wir Menschen müssen viel lernen. All die Stigmatisierer und Unterdrücker dieser Welt haben nicht verstanden, dass ihr sogenanntes Glück nicht zur Hoffnung beiträgt. Warum gehen die Menschen nicht aufeinander zu, reichen sich die Hände, versuchen, die Andersartigkeit der Anderen zu verstehen und das Positive und Hilfreiche darin zu erkennen? Das ist Glück! Das ist Hoffnung! Damit kann auf unserer wunderbaren Welt jeden Tag voller Zuversicht ein neuer Tag beginnen.“
In der Strandstraße waren schon einige weitere Frühaufsteher unterwegs. Hanna und Philip gingen in die Bäckerei des Ortes um für das Frühstück mit ihrem Sohn frische Brötchen zu kaufen.
Jonathan, Nicolle und Hartmut Haker
Ratzeburg, im Januar 2019
Diese Geschichte hat der Ratzeburger Autor Hartmut Haker zusammen mit seiner Frau Nicolle und seinem 6-jährigen Sohn Jonathan geschrieben. Jonathan malte auch die Illustration. Die Bücher und Theaterstücke des Autors, mit denen er seine psychische Erkrankung aufarbeitete, sollen anderen Betroffenen Mut machen, über diese Erkrankungen aufklären und einen Beitrag zur Entstigmatisierung leisten.